Das Prinzip der Ausgewogenheit

2025-04-24
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Das Prinzip der Ausgewogenheit

Suche bei jeder Meinung nach beiden Extremen – dafür und dagegen – und finde dann den ungefähren Mittelweg.
Dabei handelt es sich höchstwahrscheinlich um den sinnvollsten Ansatz.

Das ist eines meiner Grundprinzipien und die einzige Regel, die ich für mich selbst entwickelt habe, ohne vorher bewusst davon gelesen zu haben.
Zu oft sehe ich Diskussionen, bei denen die Leute argumentieren, ob jetzt "A" oder "Z" besser sei, ohne dabei auch nur in Erwägung zu ziehen, dass dazwischen ein komplettes Alphabet liegt.

Microservices

In der Softwareentwicklung kommt das zum Beispiel immer wieder bei dem Thema "Microservices" auf.
Das Thema an sich ist komplex genug für mehrere eigene Blogartikel, aber ich möchte das hier nur als allgemeines Beispiel nehmen.
Auf der einen Seite stehen Leute, die (ja, weiterhin) Microservices als die Lösung nahezu aller Probleme in der Softwareentwicklung sehen, während andere behaupten, dass diese grundsätzlich Over-Engineering bedeuten.
Ich bin der Meinung, dass Microservices viele Vorteile mit sich bringen können, aber dass eine komplette Microservicearchitektur sehr oft ein Zeichen für Over-Engineering ist.
Insbesondere, wenn diese gleich bei Projektstart aufgebaut wurde und nicht über die Zeit aus einer ursprünglich monolithischen Architektur heraus entstanden ist.

Pair Programming

Natürlich gibt es - wie bei jeder Regel - immer Ausnahmen.
Bei meiner Regel wäre das Pair Programming. Über die Jahre bin ich zu einem starken Verfechter des Pair Programmings geworden.
Als ursprünglicher Skeptiker wurde ich mit der Zeit zuerst durch die praktische Anwendung überzeugt, und später sogar durch Studien bestärkt.
Aber darauf werde ich später noch in einem eigenen Artikel eingehen.
Auf jeden Fall bin ich mittlerweile der Überzeugung, dass Pair Programming eher der Standard sein sollte und alles Andere die Ausnahme.

Um die Mitte zu finden, muss man kommunizieren

Für die meisten Prinzipien, Dogmen, Regeln oder Sonstigem, würde ich dazu raten, beide Seiten möglichst aufgeschlossen zu betrachten.
Wichtig dabei ist, dass man sich die beiden Extreme (und im Idealfall natürlich auch die Mitte) vernünftig anschaut und die jeweiligen Vor- und Nachteile anerkennt. Zu schnell tendiert man zu einer der beiden Seiten und verwirft komplett die andere Meinung.
Ich lese immer wieder Beiträge, in denen Ideen, Methoden, Systeme und Sonstiges komplett zerrissen und als absolut falsch bezeichnet werden.
Das nimmt zum Teil religiöse Züge an, wenn jemand ein Prinzip, eine Programmiersprache, ein Framework oder eine IDE angreift.

Bevor man eine andere Meinung verwirft, sollte man zuerst versuchen, sie zu verstehen.
Es liegt in der menschlichen Natur, sofort in eine Verteidigungshaltung zu gehen, wenn jemand die eigene Meinung in Frage stellt.
Doch für gewöhnlich fußt die Meinung der anderen Person auf deren Erfahrung, und sie wollen einen nicht angreifen, sondern nur ihren eigenen Standpunkt vertreten.
Zu sagen, "das stimmt so nicht" führt selten dazu, dass die andere Person davon überzeugt wird, egal wie viele Argumente darauf folgen.
Zuerst zu versuchen, den Standpunkt der anderen Person zu verstehen, potentielle Gemeinsamkeiten zu finden und dann vorsichtig zu ermitteln, wo die eigentliche Wahrheit liegt, ist deutlich schwieriger, aber langfristig besser und meiner Meinung nach auch der beste, wenn nicht sogar der einzige Weg, um sowohl sich selbst als auch seine Umgebung zu verbessern.

Was sagen die LLMs dazu?

Natürlich habe ich auch die LLMs zu meinem Prinzip gefragt, wie es sich heutzutage gehört. Spezifisch habe ich gefragt, ob es bereits eine derartige Regel gibt. Schließlich ist sie so banal, dass es mir unmöglich vorkam, dass das noch keiner so aufgeschrieben hat.
Gemini 2.5 hat mich dann zuerst auf das hier aufmerksam gemacht:

Mesotes (μεσότης, griechisch „Mitte“) ist ein Terminus der antiken Philosophie, der durch Aristoteles in die Ethik eingeführt wurde. Er bezeichnet laut Aristoteles die Stellung einer Tugend zwischen zwei einander entgegengesetzten Lastern, dem „Übermaß“ und dem „Mangel“.
Mesotes

Das berühmteste Beispiel hierfür ist wohl Ikarus. Er blieb nicht in der "goldenen Mitte" zwischen Meer und Himmel, sondern er stieg zu hoch hinauf, bis die Sonne das Wachs in seinen Flügeln schmolz und er im Meer ertrank.
Also hatte ich doch schon vorher von dieser Regel gelesen, allerdings zu der Zeit nicht vernünftig wahrgenommen. ¯\(ツ)
Anscheinend gibt es auch andere - zumindest ähnliche - Konzepte, wie den Grundsatz des "Mitteleren Wegs" im Buddhismus, der ebenfalls darauf abzielt, Extreme zu vermeiden.
Aber so wie ich es formuliert habe, habe ich es bisher sonst noch nicht gefunden, also nenne ich das jetzt erstmal weiter mein Prinzip! 😊

Was ich noch interessant finde, ist eine Anmerkung, welche Gemini 2.5 unter seine Antwort setzte:

Ein Hinweis zur Vorsicht:

Obwohl das Streben nach Gleichgewicht oft weise ist, sei dir des "Trugschlusses des Mittelweges" oder der "falschen Balance" bewusst.
Manchmal ist ein Extrem tatsächlich viel näher an der Wahrheit oder dem besten Ansatz als das andere, und der "Mittelweg" könnte nur ein mittelmäßiger oder falscher Kompromiss sein. Der Wert deines Prinzips liegt darin, die Extreme zu untersuchen, um die Landschaft der Möglichkeiten zu verstehen, aber der "vernünftigste" Punkt liegt möglicherweise nicht immer genau gleich weit entfernt zwischen ihnen. Kritische Bewertung ist weiterhin erforderlich.

Ich mag diese Warnung, ich finde, dass sie gut zu meinen Beispielen passt.
Außerdem möchte ich sicherstellen, dass ich nicht falsch verstanden werde. Meiner Meinung nach sollte nicht die genaue Mitte zwischen den Extremen der angestrebte Punkt sein, sondern es geht mehr darum insbesondere beide Extreme zu finden, zu analysieren, zu verstehen und idealerweise zu vermeiden.

Jetzt, wo ich so darüber schreibe, finde ich den Grundsatz im Buddhismus deutlich ansprechender.
Die Extreme zu vermeiden, ist vermutlich wirklich einer der wichtigsten Punkte.
Aber das kann man am besten, wenn man sie auch versteht.
Denn die beiden Extreme wiegen gegebenenfalls nicht gleich viel, und je besser man beide kennt, desto eher kann man den Schwerpunkt zwischen ihnen ermitteln.

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